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Krieg in der Ukraine: Was kommt bei Kindern in Deutschland an?

Fachstelle Kinderwelten am Institut für den Situationsansatz an der INA
Online
- Veranstaltung für pädagogische Fachkräfte in Kitas am 2. März 2022

Sibylle Rothkegel

Um dem angemessen zu begegnen, was der Krieg in der Ukraine bei in Deutschland lebenden Kindern möglicherweise auslöst, müssen wir uns und klarmachen, dass Kinder hier in sehr unterschiedlichen Lebensverhältnissen leben und dass sich ihre Familien und Familienkulturen unterscheiden. Eine Familienkultur setzt sich aus vielen Puzzleteilen zusammen: beispielsweise Sprachen, Erfahrungen, Werten, Religion oder auch Erfahrungen mit Herkunft, Beeinträchtigungen, sozialer Klasse, mit freiwilligem oder erzwungenem Ortswechsel, mit Diskriminierung oder Privilegierung. Wie der jetzige Krieg aufgenommen und kommentiert wird, ist ebenfalls unterschiedlich. Wir haben Vermutungen und offene Fragen, was bei Kindern und Erwachsenen ankommt und wie sie da

  • In Familien mit Fluchtgeschichten werden zurzeit möglicherweise verletzende Erfahrungen aktualisiert, zu denen bei einigen auch erlebte Diskriminierung gehört.
  • BIPoC-Familien registrieren Rassismus, in der Medienberichterstattung und auf den Fluchtwegen.
  • In Kitas gibt es Kinder aus russischen und ukrainischen Familien. Kommt es zu Spannungen, Zuschreibungen oder Anschuldigungen? Was bewirken nationalistische Bekundungen (Fahnen, Hymne) bei Kindern?
  • Was bewirken politische Meinungsverschiedenheiten in Kita-Teams bei Kindern und Familien?

Ängste von Kindern

Jedes Kind erlebt im Laufe seiner Kindheit Ängste, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Entwicklung auftreten und meist auch wieder verschwinden. Die meisten Märchen befassen sich mit dem Thema und immer auch mit der Bewältigung der Angst. Normalerweise lernt ein Kind in der jeweiligen Entwicklungsphase diese Ängste zu überwinden und Resilienz zu entwickeln. Dazu benötigt es jedoch die Unterstützung seines Umfelds.

Ängste werden bei Kindern manchmal auch ausgelöst aufgrund besonderer Lebensumstände oder Ereignisse, die in den Medien ausführlich dargestellt werden, wie die Corona-Pandemie und aktuell dazu der Krieg in der Ukraine. Sie können aber auch durch die Ängste der Erwachsenen auf die Kinder übertragen oder durch frühere traumatische Erlebnisse der Kinder aktualisiert werden.

Ein Wort zu Trauma: Traumatische Erfahrungen gehen einher mit Gefühlen von Bedrohung, Angst, totaler Ohnmacht und Hilflosigkeit und können zu dauerhaften psychischen und somatischen Beschwerden sowie sozialen Beeinträchtigungen führen. Wir beobachten dann eine dauerhafte Erschütterung des Selbstverständnisses und des Vertrauens in die Welt und eine lebenslang erhöhte psychische Verletzbarkeit. Viele Symptome, die auch verzögert auftreten können, sind unter folgenden Hauptgruppen der sogenannten posttraumatischen Belastungsstörung erfasst: Wiederleben der traumatischen Ereignisse (z.B. in Albträumen, Flashbacks); Vermeidungsverhaltengegenüber Reizen, die direkt oder indirekt mit dem Trauma verbunden sind, auch Vermeidung von Gedanken, Gefühlen, Gesprächen; Symptome von Erregung (z.B. Schlafstörungen, Aggressionsdurchbrüche). Bei früh traumatisierten Menschen kann es zu einem sog. Entwicklungstrauma kommen, das sich in verzögerter Entwicklung oder Bindungsstörung zeigt.

Es muss unterschieden werden: Retraumatisierung ist, wenn erneut eine Gewalterfahrung im Spiel ist, wenn also auf die vorherige Traumatisierung eine neue folgt; Reaktualisierung ist, wenn durch etwas, was gerade geschieht, die belastende Erinnerung

Kinder nehmen die Aufregung oder Anspannung bei Erwachsenen wahr. Auch junge Kinder bekommen meist viel mehr mit, als die Erwachsenen glauben. Sie sehen z.B. mehr oder weniger nebenbei Schreckensbilder vom Krieg, sei es, wenn sie abends bei den TV-Nachrichten noch mit auf der Couch sitzen, möglicherweise beim Vorbeilaufen auf den Titelseiten der Zeitungen am Kiosk, oder sie haben Gespräche der Erwachsenen mit angehört oder ein anderes Kind hat eine Schreckensnachricht in die Kita gebracht. Es sind sehr beunruhigende und beängstigende Informationen, die das Vertrauen der Kinder in Erwachsene in Frage stellen: Schließlich wird Krieg von Erwachsenen gemacht, die auch Waffen und Bomben herstellen, mit denen Menschen getötet werden. Junge Kinder brauchen jetzt erwachsene Bezugspersonen, die auf ihre Ängste und Fragen eingehen und ihnen Sicherheit und Beruhigung vermitteln. Beim Umgang mit Ängsten der Kinder ist die Kommunikation zwischen der Kita und den Familien besonders wichtig.

Für Kinder sind Bilder vom Krieg im Allgemeinen schwer zu verstehen: Warum weinen die Menschen? Warum sitzen die in den U-Bahnstationen mit ihren Haustieren? Besonders die Darstellung verzweifelter Menschen oder von Gewaltszenen können Kinder stark verunsichern, und im besten Fall stellen sie nun viele Fragen. Dann ist es wichtig behutsam zu herauszufinden, was und woher ein Kind schon etwas aufgenommen hat. Wurde in der Familie schon drüber gesprochen? Hat ein anderes Kind etwas gesagt oder hat es gesehene Bilder in seine Träume aufgenommen und phantasievoll weitergedacht?

Wichtig ist zu beachten: Die Gefühle der Kinder sind ernst zu nehmen! Immer nachfragen, was genau Angst erzeugt, niemals: “Du brauchst keine Angst haben!”

Kinder reagieren sehr unterschiedlich

Kinder reagieren sehr unterschiedlich auf belastende Ereignisse, manche ziehen sich zurück, andere wollen sprechen. Ihre Reaktionen sind abhängig von ihrer Persönlichkeit, von Rollenmodellen, vom Alter oder der sprachlichen und emotionalen Entwicklung und der Bindung, die sie zu ihren jeweiligen Bezugspersonen haben, auch von dem, was sie selbst erlebt haben oder wie zuhause darüber gesprochen wird. Deshalb ist es wichtig, neben gruppenbezogenen Aktivitäten in der Kita zum Thema (z.B. „Umgang mit Konflikten in der Kita“) auf jedes einzelne Kind einzugehen.

Umgang der Erwachsenen mit Kriegsängsten der Kinder

Eine realistische Einschätzung der tatsächlichen Gefährdung ist Kindern noch nicht ohne weiteres möglich. Hier fehlt Erfahrung, Abstraktionsfähigkeit und Denken in Wahrscheinlichkeiten.

Eltern/Bezugspersonen/Betreuer*innen haben eine Vorbildfunktion. Das heißt, wenn Kinder die Gefahr als überhöht einschätzen, ist es hilfreich, realistische Orientierung zu geben. Erwachsene Bezugspersonen haben die Aufgabe, Kinder zu stärken, und nicht die eigenen Ängste auf sie zu projizieren.

Deshalb ist es wichtig, die eigenen Ängste in den Gesprächen mit den Kindern nicht zu leugnen, aber zu kontrollieren und für deren Verarbeitung separate Räume zum Austausch mit anderen Erwachsenen zu finden.

Mögliche Reaktionen von Kindern

Kindern ist eine Distanzierung grundsätzlich schlechter möglich. Zum Beispiel kann es sein, dass ein unverletztes Kind weint und Schmerz empfindet, weil um das Kind herum Menschen weinen und Schmerzen haben oder weil es Bilder verletzter Menschen aus den Medien im Kopf hat oder weil es an eigene Erfahrungen erinnert wird. Es kann sich von dem Erleben anderer weniger gut abgrenzen. Kinder brauchen Erwachsene, die ihnen bei der Distanzierung helfen. Möglichkeiten sind, sie abzuschirmen, (im Austausch mit den Eltern/Bezugspersonen) dafür zu sorgen, ihren Medienkonsum zu beschränken, ihnen zu helfen an etwas anderes zu denken, sich gezielt abzulenken.

Eine häufige Reaktion von Kindern auf erschreckende Bilder oder Gespräche und die dazu entstandenen Phantasien sind Ängste, die mit verstärkter Anhänglichkeit einhergehen. Wichtig ist für Pädagog*innen, Kindern Präsenz zu zeigen und Nähe zuzulassen. Dazu gehört z.B. Körperkontakt und aktives Zuhören (niemals zwischen Tür und Angel!). Dies kann erst allmählich im Verlauf wieder auf das Ausgangsmaß zurückgehen, und zwar in dem Tempo, in dem die Kinder Sicherheit zurückgewinnen.

Kinder können ihre Emotionen weniger gut ausdrücken als Erwachsene. Daher können sich ihre Emotionen in diffusen Körperbeschwerden äußern, z.B. Bauchweh. Hier heißt es, Beschwerden wahr- und ernst zu nehmen. Da meist Gefühle dahinterstecken, ist es wichtig, Kinder zu unterstützen, ihre Gefühle zuzulassen. Gleichzeitig sollte Kindern ermöglicht werden zu lernen, negative Gefühle (trotz ernst nehmen) auch wieder zu begrenzen. Dazu hilft Ablenken oder Entspannung. Wenn sich Kinder durch Spiele ablenken, kann es sein, dass sie belastende Ereignisse nachspielen. Dies ist normal, kann der Verarbeitung helfen und sollte (zumindest in der Anfangszeit) nicht begrenzt werden.

Besonders jüngeren Kindern, aber auch Kindern, die verbal weniger geübt sind, kann es schwerfallen, über ihre Gedanken und Gefühle zu sprechen. Eine Möglichkeit ist es, diese Kinder zum Malen oder anderen kreativen Tätigkeiten zu ermuntern. Hilfreich können auch körperliche Aktivitäten im Freien sein.

Umgang mit möglichen Fragen der Kinder

Das Wichtigste: Unaufgeregte, sachliche, aber einfühlsame Reaktionen!

Sprechen Sie das Thema nur an, wenn von Kindern aktiv Fragen gestellt werden oder Sie sicher sind, ein Kind beschäftigt etwas. Es gibt keinen Grund, ein junges Kind mit Themen zu konfrontieren, das nicht danach fragt.

Wenn Fragen gestellt werden, dann nehmen Sie sich bitte Zeit. Erklären Sie die Situation wahrheitsgemäß, aber vereinfacht. Denken Sie an die Sprache der Kinder und versuchen Sie Worte zu benutzen, die sie kennen. Wichtig ist, gezielt auf die Fragen zu antworten und nicht zu sehr abzuschweifen (siehe Text: Mit Kindern über Flucht sprechen – Dialoge über Kinderbücher, von Gabriele Kone in diesen Fortbildungsbausteinen der Fachstelle Kinderwelten, S. 49: 
https://situationsansatz.de/wp-content/uploads/2016/08/fortbildungsbausteine_flucht.pdf)

In Medien für Kinder (KIKA, Sendung mit der Maus) wird nun auch Krieg thematisiert. Bevor Sie diese Sendungen den Kindern zeigen, sollten Sie überprüfen, ob die Darstellungen wirklich die Kinder Ihrer Gruppe oder Einrichtung in ihrer Vielfältigkeit adressieren.

Wir können Kindern erklären, wie sich Menschen im Kriegsgebiet schützen können (Bunker etc), wie beispielsweise Rettungskorridore gebildet werden, wie ihnen auf der Flucht und bei der Ankunft im Zielland geholfen werden kann. Hilfsangebote von vielen Menschen und Ländern erwähnen.

Sicherheit vermitteln durch Unterstützungsangebote oder eigene Aktivitäten

Wenn Kinder von schlimmen Ungerechtigkeiten erfahren, möchten sie häufig etwas Konkretes tun. Unterstützen Sie dies auch hier: einen Protestbrief an Regierungsvertreter schreiben, Friedenstauben basteln und an einer Wäscheleine aus den Fenstern der Kita hängen, Vieles ist denkbar. Bringen Sie in Erfahrung, wie der Krieg und die Flucht der Menschen in den Familien besprochen wird.

Gemeinsam eine Kerze anzünden, eine Spendenaktion, die Menschen im Kriegsgebiet hilft, mag nicht für alle das Richtige sein.

Mit den Kindern Pläne schmieden: Was können wir tun, wenn geflüchtete Kinder aus der Ukraine zu uns in die Kita kommen? Was hat uns damals geholfen, als wir geflüchtet sind? Bereits erworbene Erfahrungen mit aus anderen Kriegsgebieten geflüchteten Kindern und Familien in der Kita ansprechen. (Praxisbeispiele in den Fortbildungsbausteinen S. 78ff, 
https://situationsansatz.de/wp- content/uploads/2016/08/fortbildungsbausteine_flucht.pdf)

Wichtig: Unterstützung der Kitaleitung; gute Zusammenarbeit im Team, Austausch von Erfahrungen mit Gesprächen mit den Kindern. Bei Konflikten im Team und unter den Kindern oder Eltern/Bezugspersonen: Differenzen benennen; Diskriminierungskritisches Herangehen (Vorurteilsbewusste Prinzipien/Anti-Bias anwenden).